HC TimeCatcher16

Lemgo Look-Hansecenter

Die Wunden der Vergangenheit

Städte sind lebende Organismen, sie werden geboren, wachsen, reifen, erleben Siege, Niederlagen, Hochs und Tiefs. Sie tragen deren Narben und deren Orden. Sie werden alt und manche sterben. Um zu sterben, muss eine Stadt nicht verlassen oder zerstört werden, manchmal reichen Dummheit, Hybris, Pech, Gier oder nur schlechter Geschmack. Dann werden sie zu leeren Hüllen. Die gibt es sogar in schön.

Einige Länder der Erde erlebten tiefe Zäsuren, völligen Niedergang und Agonie. Mit ihnen ihre Städte. So war es auch in Deutschland 1648 und 1945. Von der mehrfachen Plünderung und Besetzung nach dem 30jährigen Krieg, hat sich Lemgo für Jahrhunderte kaum richtig erholt. Nach einem kurzen Aufbäumen im späten 17ten Jahrhundert, wurde es recht ruhig um die Bautätigkeit. Im Nachhinein ist das ein Glücksfall, denn eine blühende Stadt, hätte wohl spätestens in der sogenannten „Gründerzeit“ viel von der Enge des Mittelalters und der Renaissance beseitigt und überbaut.

Im 2ten Weltkrieg verschont, gab es nicht die riesigen Lücken und Wüsten, in welchen andernorts die Zweckbauten der 50er bis 70er Jahre entstanden. Nur auf der Westseite des Marktplatzes und bei einigen vereinzelten Häusern der Altstadt hinterließ diese Zeit prägnante Spuren.

Eine dieser Spuren war insofern noch „gut gemacht“ als das man den üblen Einkaufspassagen-Anbau des früheren „Hanse-Centers“, von der „Denkmalseite“ der Breiten Str. gar nicht sehen konnte. Passagen waren groß in Mode und so räumte man die Häuser 39 und 41 komplett aus (entkernen) und klatschte hinten einen typischen, billigen Flachbau und einen Parkplatz dran. Wie so viele Passagen in Innenstadt-Randlage und mit eigentlich zu wenig Fläche, ging auch diese nach 20 Jahren wieder ein. Wer erinnert sich noch, das im Penny-Markt zuletzt Eimer standen, um das Tropfen des Daches aufzufangen?

Was dann kam, war ein Gezerre wie in der ehemaligen DDR nach der Einheit. Eine riesige Schar an Erbberechtigten wurde sich nicht einig und historische sowie „moderne“ Bausubstanz rottete über zehn Jahre vor sich hin. Für die Breite Straße war das frühe 21te Jahrhundert ohnehin lange keine Glanzzeit, aber diese beiden Fassaden waren die hässlichste Wunde der Vergangenheit. Schließlich wurde es so schlimm, dass es eine Initiative gab, die das Drama wenigstens mit großen Bannern verdeckte.

Der Jahreswechsel 2019/20 brachte die Wende für das Ensemble. Endlich gelang der Verkauf, endlich tat sich was. In den Jahren zuvor wurde viel spekuliert, was damit geschehen würde, wie „denkmalfreundlich“ ein möglicher Investor sein würde und wie hoch der Leidensdruck der Stadt, ihn gewähren zu lassen. Und dann geschah das maximal Schöne. Der Komplex gelangte in die Hände von Andreas Kramp, ein Teil der erfolgreichen Geschwister Kramp, die sich weit über Lemgo hinaus ihre Namen als Restauratoren und Architektin machten. Es gibt in Lemgo etliche Objekte, welche die Kramps mit viel Liebe und noch mehr Sachverstand zu neuem Glanz führten. Darunter unter anderem auch die St. Nicolai Kirche.

Wir waren sehr erleichtert, denn nun wussten wir, das alles gut werden würde. Wer sich fragt, ob die das können, dem sei ans Herz gelegt, sich, wie wir, nach Frankfurt zu begeben um durch die Gassen des DomRömer Projektes zu schlendern. Letzten Endes bauten sie drei der historischen Gebäude aus dem Nichts wieder mit auf. Das „Haus Goldene Waage“ ein Meisterstück zu nennen, ist eine starke Untertreibung. Es ist eine Zeitmaschine. Der Beweis, dass es noch echte Handwerkskunst gibt. Dass es noch möglich ist, Dinge zu erschaffen, die für Jahrhunderte glänzen werden.

Wir waren drin, in den Hüllen der Gebäude Breite Straße. Wieder entkernt, befreit von (fast) allem Aberwitz der Umbauten aus hundert Jahren, erschließt sich der organische Charme des alten Fachwerkkerns. Die majestätische, alte Halle des ehemaligen Scheunenbaus, fast sechs Meter hoch, die verwinkelten Ausbauten, die „Mädchenzimmer“ im Dachboden, teils abenteuerliches Flickwerk am Dachstuhl, überraschende Flure und wechselnde Materialien. Bisher ist sich niemand so ganz sicher, wie alt der Kern des Hauses ist. Die heutige Struktur bekam es um 1817, die „fake Barock“ / Jugendstil Fassade etwa hundert Jahre später. Aber hinten finden sich uralte Steine, vielleicht 16tes oder 17tes Jahrhundert, wer weiß es schon. Es ist, als habe man Schorf von einer Wunde gekratzt und die geschundene Haut darunter saugt gierig den Sauerstoff zur Heilung.

Straßen sind wie Städte in klein. Die Breite Straße hat eine lange Phase des Niedergangs hinter sich. Jetzt, mit dem Bega Beach an ihrem Eingang bei der Langenbrücker Mühle (bald mit angeschlossenem Auenpark), mit dem vielversprechenden neuen Hotel Annenhof (Alte Abtei), mit dem coolen Vinylshop „White Rabbit“, dem Publikumsmagneten Postfiliale, dem modernen

„Co-Working-Space“, einigen liebevollen Geschäften und dem feinen Brunnen auf dem Waisenhausplatz, geht es sichtlich bergauf. Wir kennen die Kramps. Wir haben tiefstes Vertrauen, das Hausnummer 39 und 41 bald wieder leuchten werden. Für das riesige Areal dahinter haben sie tolle, helle Konzepte für innerstädtisches Wohnen in allen Größen, so wie wir es dringend brauchen.

Die Wunden der Vergangenheit tun manchmal lange weh, aber mit den richtigen Heilern kann es schöner werden als zuvor.

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